Es braucht ein ganzes Dorf …

Mein Haus liegt nahe dem Zentrum einer kleinen Gemeinde. In der näheren Umgebung befindet sich das letzte, noch offene Dorfgasthaus. Mein Nachbar Sepp geht gerne dort hin. Wenn das Wetter schön ist, hat er sich zur Gewohnheit gemacht, dort am Nachmittag ein kühles Blondes zu genießen. Er setzt sich in den Gastgarten, und wenn jemand da ist, den er kennt, dann politisiert er gerne mit seinen Gastgarten-Freunden. Sie lachen über Witze und diskutieren das momentane Weltgeschehen. Wenn Sepp dann nach Hause geht, fühlt er sich wohl, der Austausch tut ihm gut.

Dann habe ich von seiner Tochter erfahren, dass Sepp an einer beginnenden Alzheimer-Demenz leidet. Sie erzählte, dass er schon öfters von zu Hause weggegangen ist und nicht mehr zurückfand. Einige Tage später, ich war gerade am Fenster putzen, hörte ich das Rucken von Stühlen auf der Terrasse vor meinem Haus. Ich fand Sepp auf der Terrasse sitzend, der zu mir sagte:  „Gnädige Frau, ich würde gerne ein kühles Blondes bei Ihnen bestellen!“ Zuerst wollte ich ihn darüber aufklären, dass er nicht im Gasthaus saß, aber dann kam mir wieder das Gespräch mit der Tochter von Sepp in den Sinn. Ich schlüpfte also in die Rolle einer Bedienung und sagte: „Ja hallo Sepp, das freut mich, dass du wieder mal vorbeischaust! Ich bring dir ein Bierchen.“ Dann saßen wir ein Weilchen da und schwatzten über das Wetter und den Bürgermeister. Als das Bierglas leer war, meinte Sepp: „Ich sehe schon, hier ist nicht viel los, ich geh dann mal weiter!“ Er legte 5 Euro auf den Tisch und sagte: „Passt scho so!“

Seither kommt Sepp ab und zu vorbei im Gastgarten „Nachbar“, trinkt sein Bier bei mir und fühlt sich wohl. Ich glaube es ist so, dass es eben eine ganze Gemeinde braucht, um einen Menschen mit Demenz zu begleiten.

Die Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit. Namen und Örtlichkeiten sind erfunden.

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